1. Einleitung1
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Tertiärsprachenforschung (TSF) als eigenständige Disziplin etabliert. Zeitgleich erlebt der Auf- und Ausbau von Lernerkorpora einen Aufschwung. Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, Synergien aufzuzeigen: Es wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit fehlerannotierte Lernerkorpora in der TSF verwendet werden können.
Datengrundlage für die Analyse bilden Belege aus Dulko (Deutsch-Ungarisches Lernerkorpus), die von ungarischen Deutschlernenden mit Englisch als zweiter Fremdsprache stammen. Untersucht wurde, ob Interferenzfehler aus dem Englischen vorkommen und, wenn ja, in welchen Bereichen.
Im Folgenden werden zuerst (Abschnitt 2) untersuchungsrelevante Fragestellungen der TSF skizziert sowie das Projekt DaFnE für ungarische Deutschlernende vorgestellt, die den Hintergrund sowie die Motivation für die vorliegende Untersuchung bilden. Abschnitt 3 widmet sich der Beschreibung einer Pilotanalyse: Die in beiden Subkorpora von Dulko als syntaktische, morphologische und lexikalische Fehler getaggte Belege wurden darauf hin untersucht, ob Interferenz aus dem Englischen als mögliche Fehlerursache in Frage kommt. Die Belege wurden sowohl einer qualitativen (3.2) als auch einer quantitativen (3.3.) Analyse unterzogen. In Abschnitt 4 werden die wichtigsten Befunde zusammengefasst und Desiderata formuliert.
2. Tertiärsprache – Tertiärsprachenforschung
Der Begriff Tertiärsprache (oder L3) wird in der Literatur auf unterschiedliche Weisen definiert. In der vorliegenden Arbeit wird unter Tertiärsprache jede Fremdsprache verstanden, die nach der ersten Fremdsprache gelernt wird (vgl. Hufeisen 2001: 648).
Die TSF basiert auf der Erkenntnis, dass die zweite Fremdsprache anders gelernt wird als die erste (vgl. z.B. Hufeisen 2001: 648): Die Lernenden sind älter2 und haben somit andere kognitive Fähigkeiten. Außerdem haben sie schon Erfahrung mit Fremdsprachenlernen, haben vielleicht auch Fremdsprachenlernstrategien und eine bessere Sprachbewusstheit.
Tertiärsprachen werden in der letzten Zeit mit zunehmendem Interesse erforscht, sei es aus psycholinguistischen, soziolinguistischen, sprachdidaktischen oder kognitiv-linguistischen Aspekten. Hier sollten nur die Fragestellungen erwähnt werden, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind: Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die bereits bekannten Sprachen das Erlernen einer neuen Fremdsprache beeinflussen, bzw. ob dadurch das Fremdsprachenlernen erleichtert werden kann (vgl. Jarvis / Pavlenko 2008: 20). Die Frage soll dadurch ergänzt werden, wie die Sprachen einander beeinflussen, da auch die neuen Sprachen Einfluss auf die schon bekannten Sprachen haben können.
Die obigen Fragestellungen haben auch eine praktische Relevanz für den Deutschunterricht in Ungarn: Deutsch wird zunehmend als zweite Fremdsprache nach Englisch unterrichtet. DaFnE (Deutsch als zweite Fremdsprache nach Englisch) scheint sich als eigenständiger Teilbereich zu etablieren, wofür auch spezielle Unterrichtsmaterialien ausgearbeitet wurden (s. z.B. Kursiša / Neuner 2006).
Sowohl die Unterrichtsmaterialien DaFnE als auch die meisten Untersuchungen zum L3-Erwerb konzentrieren sich auf lexikalische Ähnlichkeiten bzw. auf den lexikalischen Transfer und beziehen Lernanfänger:innen mit ein. Die Gründe dafür sind naheliegend: Lexikalischer Transfer ist in der Regel einfacher zu erkennen als grammatischer Transfer und bei Lernanfänger:innen weiß man genau, wie viel Erfahrung die Lernenden mit der L3 haben.
An der Universität Pécs (Ungarn) wird gegenwärtig an dem Aufbau eines Projekts DaFnE für ungarische Deutschlernende gearbeitet, das einerseits den grammatischen Transfer in den Vordergrund stellt (vgl. Berényi-Nagy / Molnár 2019; Molnár / Berényi-Nagy 2022), andererseits auch fortgeschrittene Lernende mit einbezieht. Eine der zentralen Forschungsfragen ist, welche Bereiche für den grammatischen Transfer anfällig sind. Es wird versucht, diese Bereiche durch sprachtypologisch-kontrastive Analysen sowie durch empirische Untersuchungen zu ermitteln. Dabei stellt sich die Frage, ob das Hinzuziehen von Analysen von Lernerkorpora für das Projekt gewinnbringend sein könnte.
3. Pilotanalyse – Dulko
Um die Frage zu beantworten, ob und inwieweit Lernerkorpora in der TSF verwendet werden können, wurde eine Pilotanalyse anhand von Belegen des Deutsch-Ungarischen Lernerkorpus (Dulko) durchgeführt. Die Hypothese war, dass Korpora dieser Art in der TSF nur eingeschränkt verwendbar sind: Für die TSF ist die genaue Kenntnis der Sprachbiograhie der Proband:innen von grundlegender Relevanz (gelernte Fremdsprachen, Reihenfolge der Fremdsprachen, Alter zu Beginn des Lernens einer Fremdsprache usw.). Des Weiteren sind Informationen darüber notwendig, welche Fremdsprache(n) die Proband:innen im Alltag benutzen und zu welchen Zwecken, denn eine Fremdsprache, die im Alltag nur selten und/oder nur rezeptiv verwendet wird, hat einen anderen (wahrscheinlich geringeren) Einfluss auf eine neue Fremdsprache als eine, die man täglich, z.B. in der Arbeit, sowohl rezeptiv als auch produktiv gebraucht. In Dulko sind Metadaten dieser Art nur teilweise vorhanden. Es gibt Angaben über die gelernten Fremdsprachen, wobei die Dauer des Lernens angegeben wird, auf die Reihenfolge des Lernens kann nur gefolgert werden. Es fehlen ferner, zumindest zum Teil, Angaben über das Niveau der Sprachkenntnisse in weiteren Fremdsprachen sowie darüber, welche Fremdsprache(n) die Proband:innen im Alltag verwenden.
Die zweite Einschränkung resultiert aus der Tatsache, dass es sich hierbei um Fehleranalyse handelt. So lässt sich nur negativer Transfer, d.h. Interferenz ermitteln. Hinzu kommt ein allgemeines Problem der Fehleranalyse: Man kann nur eine mögliche Fehlerursache angeben, d.h. es handelt sich dabei lediglich um Hypothesen (vgl. Katsikas 1995; Kleppin 2001: 989).
3.1 Analysemethodik
Das Deutsch-Ungarische Lernerkorpus Dulko besteht aus zwei Subkorpora, Essays und Übersetzungen, die von ungarischen Germanistikstudierenden der Universität Szeged stammen und ohne Hilfsmittel angefertigt wurden (vgl. Beeh et al. 2021: 4). Das Korpus kann über ANNIS erreicht und recherchiert werden (vgl. Beeh et al. 2021: 60).
Bei der Pilotanalyse wurden beide Subkorpora von Dulko (Essays und Übersetzungen) untersucht, um die Ergebnisse miteinander vergleichen zu können. Die Suchanfragesyntax ermöglicht, gezielt nach Fehlern auf einzelnen sprachlichen Ebenen zu suchen. Des Weiteren ist es möglich, die Suche anhand der Metadaten einzugrenzen. So wurden syntaktische, morphologische und lexikalische Fehler von Lernenden mit Englisch als zweiter Fremdsprache analysiert. Ursprünglich sollten auch semantische Fehler in die Analyse einbezogen werden, hier konnte jedoch Interferenz aus dem Englischen nicht nachgewiesen werden. Exportiert wurden die Belege mit dem GRIDexporter, und enthielten folgende Angaben: den Originaltext der Lernenden, den Fehlertyp, wie er in Dulko getaggt wurde, die Zielhypothese, d.h. was wohl die beabsichtigte Äußerung war (vgl. Beeh et al. 2021: 15). Im Falle des Übersetzungskorpus wurde auch der ungarische Originaltext exportiert. Ferner wurden Metadaten hinzugenommen: der Lerner-ID sowie der Text-ID.
Die Belege wurden einzeln darauf hin untersucht, ob negativer Transfer aus dem Englischen als mögliche Fehlerursache in Frage kommt.
3.2 Qualitative Analyse
Als Erstes musste festgestellt werden, dass sich die beiden Subkorpora nicht vergleichen lassen. Der Grund dafür war die unterschiedliche Korpusgröße. Das Übersetzungskorpus ist deutlich kleiner und enthielt eine sehr niedrige Anzahl an relevanten Belegen, so werden die beiden Subkorpora im Folgenden gemeinsam analysiert.
In allen drei Bereichen konnten Interferenzfehler aus dem Englischen nachgewiesen werden. Diese werden im Folgenden detailliert beschrieben.
3.2.1 Syntaktische Fehler
Im Bereich der Syntax waren verschiedene Fehlertypen vertreten, deren Ursache möglicherweise der Einfluss des Englischen war.
Im Korpus gab es 17 Belege für Verbstellungsfehler, deren Ursache möglicherweise Interferenz aus dem Englischen war. Bei diesen Fehlern kann auch das Ungarische eine Rolle gespielt haben, da die Satzgliedstellung in dieser Sprache nicht grammatisch festgelegt ist.
- (1)
- Natürlich, es gibt viele junge Leute, die mehr Geld verdienen wollen (Entlohnung_31)
- (2)
- Darüber hinaus, meine Tante möchte einen Job, mit dem sie gut verdienen kann (Feminismus_13)
Bei diesen Belegen deutet auch der Rechtschreibfehler (Kommasetzung) auf den Einfluss des Englischen hin, da die ungarischen Äquivalente kein Komma enthalten würden.
Da Fehler dieser Art sowohl durch Interferenz aus der Muttersprache (Ungarisch) als auch durch den Einfluss des Englischen entstanden sein können, wurden in einem weiteren Analyseschritt alle Verbstellungsfehler von Dulko untersucht. Dabei wurde der Frage nachgegangen, ob Fehler wie (1) und (2) (mit oder ohne Komma) tatsächlich für Lernende mit Englisch als weiterer Fremdsprache typisch sind. Die Analyse hat gezeigt, dass das der Fall ist: Es wurde nur ein einziger Beleg im Übersetzungskorpus gefunden, der einen ähnlichen Fehler enthält und nicht von einer Person mit Englisch als weiterer Fremdsprache stammt.
Im Bereich der Satzgliedstellung war auch ein weiterer Fehlertyp vertreten: Es handelt sich um falsche Satzgliedstellung im Mittelfeld:
- (3)
- Es hat verändert, Frauen sind in meisten Aspekte ähnlich wie Männer heutzutage (Feminismus_13) (vgl. eng. women are in most respects similar to men nowadays)
Ferner gab es einen Beleg, der im Korpus als Subjektkongruenzfehler getaggt wurde:
- (4)
- Was die Polizei betrifft, sind sie nicht immer effektiv (Kriminalität_4)
Das Wort police gehört im Englischen zu den Pluraliatantum, so kann dieser Fehler mit der Übertragung dieser Eigenschaft ins Deutsche erklärt werden. Auch die Unterrichtserfahrung der Verfasserin zeigt, dass Lehramtsstudierende, die Englisch und Deutsch studieren, dazu neigen, das Wort Polizei auch im Deutschen als Pluraletantum zu benutzen.
Schließlich sollten auch die Valenzfehler erwähnt werden. Hier ist die Fehlerursache oft weniger eindeutig als bei anderen Fehlern. Außerdem war bei den meisten Valenzfehlern der Einfluss des Ungarischen festzustellen, was darauf hindeutet, dass Konzepte dieser Art auf Ungarisch im mentalen Lexikon verankert sind. Ein mögliches Beispiel für Interferenz aus dem Englischen ist (5):
- (5)
- Ungarische Menschen lachen an mich als ich nach ein Date bezahlen möchte (Feminismus_3) (vgl. eng. laugh at)
3.2.2 Morphologische Fehler
Morphologische Fehler zeigen, dass auch grammatische Strukturen transferiert werden können. Im Korpus vertreten waren Fehler bei der Adjektivkomparation (6) und Wortbildungsfehler (7):
- (6)
- Das heißt, dass sie mehr entwickelt sind, als Ungarn (Feminismus_13)
- (7)
- […] viele Kriminalen bekommen Geldstrafe (Kriminalität_3) (vgl. eng. criminals)
Hier sind besonders die Fehler bei der Bildung von Komparativ- uns Superlativformen interessant: Diese zeigen, dass beim grammatischen Transfer auch die empfundene typologische Ähnlichkeit zwischen zwei Sprachen eine Rolle spielen kann (vgl. auch Rothman / González Alonso / Puig-Mayenco 2019). Lernende empfinden Deutsch und Englisch als typologisch ähnlicher als Deutsch und Ungarisch, obwohl in diesem Fall Deutsch und Ungarisch (und zum Teil auch Englisch) typologisch identisch sind: Komparativ wird grundsätzlich agglutinierend, mit Hilfe eines Suffixes gebildet (ung. új – újabb, dt. neu – neuer, eng. new – newer).
Bei den Flexionsfehlern gab es nur einen einzigen Beleg, bei dem Interferenz aus dem Englischen eine Rolle gespielt haben könnte:
- (8)
- […] bei Teenagers wuchs dieser Zahl auf 2 Stunden und 14 Minuten (Weinen_16)
Hier ist jedoch anzumerken, dass Anglizismen oft die englische Pluralform auf -s beibehalten. So kann der Fehler auch auf Übergeneralisierung beruhen und somit mit intralingualem Transfer erklärt werden.
3.2.3 Lexikalische Fehler
Wegen der engen Verwandtschaft zwischen Deutsch und Englisch waren im lexikalischen Bereich vergleichsweise viele Fehler zu erwarten. Dafür spricht einerseits, dass die Zahl der falschen Freunde in diesen Fällen höher ist als bei nicht verwandten Sprachen. Andererseits können, wie das das Parasitenmodell von Hall und Ecke beschreibt (vgl. Hall / Ecke 2003), auch formal ähnliche und bedeutungsgleiche Wörter zu Fehlern führen.
Die lexikalischen Fehler waren in mehreren Fällen schwer zu trennen von den Wortbildungsfehlern (bzw. sie waren gleichzeitig beides, auch wenn sie in Dulko nicht als Wortbildungsfehler getaggt wurden, da es sich nicht um falsche Verwendung von Wortbildungselementen des Deutschen handelt). Die untersuchten lexikalischen Fehler sind in Dulko als „Lex“ (Fehler in der Wortwahl), „Grundf“ (falsche Grundform) und „Phr“ (Wendung) getaggt (vgl. Beeh et al. 2021: 49-51). Diese Kategorisierung erwies sich aus der Perspektive der TSF als unzureichend, sie musste präzisiert werden. Die Fehler ließen sich nach dem Typ des Transfers drei Gruppen zuordnen.
Zu der ersten Gruppe gehören Fehler, die aus Übernahmen von englischen Wörtern resultieren. Hierbei konnten verschiedene Untergruppen festgestellt werden. Einerseits gab es Fälle von code mixing:
- (9)
- Es gibt natürlich viele junge Frauen, wer besser Jobs und equal Geld verdinen möchten (Feminismus_3)
- (10)
- Der Löwe, die Katze oder die Donkey benähmen sich wie sie Menschen wären (Sprache_5)
Andererseits konnte auch Formtransfer beobachtet werden:
- (11)
- Ein sehr negatives Phenomenon (Entlohnung_16)
- (12)
- Ein häufig vorkommendes, schlechtes Phänomenon (Kriminalität_10)
In diesen Fällen ist das deutsche Wort graphematisch/phonetisch dem englischen ähnlich. Belege für falsche Freunde waren ebenfalls zu finden:
- (13)
- Laut des chinesischen Horoskops bin ich Rat. Der chinesische Rat […] (China_15)
- (14)
- Deshalb werden die Wagen nie ähnlich werden, […] (Entlohnung_16) (ZH: die Löhne, vgl. eng. wages)
In diesen Fällen besteht formale Ähnlichkeit zwischen den Wörtern der zwei Sprachen, ihre Bedeutung ist jedoch nicht identisch.
Zu der vierten Untergruppe gehören Belege, die nur durch das Zusammenspiel von konzeptuellem, semantischem und Formtransfer erklärt werden können:
- (15)
- […] wir helden Traditionen ganz wichtig (Feminismus_3)
- (16)
- Zum Glück hatte ich Erfolg, einen Fahrrad zu lohnen (China_4)
Die Wörter helden bzw. lohnen sind wahrscheinlich durch semantischen bzw. Formtransfer des englischen hold bzw. loan entstanden. Es muss aber angemerkt werden, dass diese Wörter in den obigen Kontexten auch im Englischen nicht verwendet werden könnten. D.h., dass vor diesem Formtransfer ein konzeptueller Transfer (vgl. Jarvis / Pavlenko 2008: 120) stattgefunden haben muss. Das ungarische tart (wie auch das deutsche halten3) hat nämlich eine wörtliche und eine übertragene Bedeutung, das englische held jedoch nur eine wörtliche4. Genauso kann das ungarische kölcsönöz (‚leihen‘, ‚ausleihen‘) in mehr Kontexten verwendet werden als das englische loan und kann auch als Synonym zu bérel (‚mieten‘) vorkommen.
Es wird sich also Folgendes in den Köpfen der Proband:innen abgespielt haben: Dem ungarischen tart (‚etwas in der Hand halten‘ bzw. ‚etwas für etwas halten‘) entspricht im Englischen hold/held – das ist ein konzeptueller Transfer, in diesem Fall ein negativer. Wegen der engen Verwandtschaft zwischen Deutsch und Englisch muss das englische held im Deutschen helden lauten. Bei lohnen ist der Verlauf ähnlich: Das ungarische bérel (‚mieten‘) ist in diesem Kontext synonym zu kölcsönöz (‚leihen‘, ‚ausleihen‘). Die englische Entsprechung von kölcsönöz ist loan (wieder ein konzeptueller Transfer), was auf Deutsch lohnen lauten muss. Man muss aber hinzufügen, dass Prozesse dieser Art in der Regel unbewusst ablaufen. Sie lassen sich nur schwierig nachweisen und überprüfen, etwa durch Laut-Denk-Protokolle.
Schließlich soll hier auch ein Sonderfall erwähnt werden:
- (17)
- Attention (Kriminalität_4)
Das Wort Attention wurde aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt und war im 18. und 19. Jahrhundert noch gebräuchlich5. Heute gilt das Wort als veraltet und wurde deshalb in Dulko als Fehler getaggt. Da die Probandin Italienisch als weitere Fremdsprache angibt, die sie kennt, kommt neben Englisch (attention) auch Italienisch (attenzione) als mögliche Transferquelle in Frage.
Der zweiten Gruppe wurden Fehler zugeordnet, die aus dem Transfer von Wortbildungsmustern (18, 19) bzw. syntaktischen Strukturen (20, 21) resultieren:
- (18)
- Polizeimänner (Kriminalität_4) (eng. policemen)
- (19)
- Feuermänner (Entlohnung_14) (eng. firemen)
- (20)
- Ungarische Menschen lachen an mich […] (Feminismus_3) (eng. Hungarian people)
- (21a)
- […] ohne dass ich die Aufmerktsamkeit der Lokalen geweckt hätte (China_15) (eng. locals)
- (21b)
- […] ohne dass, ich bei den lokalen Menschen bemerkt worden wäre (China_4) (eng. local people)
Schließlich wird die dritte Gruppe von Fehlern gebildet, die auf Bedeutungstransfer/semantischem Transfer beruhen:
- (22)
- Es sind aber einige Gesätze, die […] (Kriminalität_9) (eng. there are)
- (23)
- Ein sollte nie damit rechnet und darauf basieren, dass er […] (Kriminalität_4) (eng. one)
- (24)
- […] und ich habe das Frühstück in meinen Raum gebracht lassen. (China_4) (eng. room)
3.3 Quantitative Analyse
Um die Analyseergebnisse verorten zu können, muss die Frage beantwortet werden, was für eine Rolle Interferenzfehler aus dem Englischen unter den Fehlern der untersuchten Lernenden spielen. Aus diesem Grund wurde eine quantitative Analyse durchgeführt. Dazu wurde zuerst die Gesamtanzahl der Fehler in den einzelnen Bereichen mit der Anzahl der Interferenzfehler aus dem Englischen verglichen. Die Daten sind in den folgenden Tabellen zusammengefasst (Tabellen 1, 2, 3).
Gesamtanzahl | davon Interferenz aus dem Englischen | |
Essays | 477 | 20 |
Übersetzungen | 240 | 3 |
Gesamtanzahl | davon Interferenz aus dem Englischen | |
Essays | 254 | 11 |
Übersetzungen | 203 | 2 |
Gesamtanzahl | davon Interferenz aus dem Englischen | |
Essays | 439 | 15 |
Übersetzungen | 258 | 9 |
Wenn man diese Daten betrachtet, scheint die Anzahl der Interferenzfehler aus dem Englischen, verglichen mit der Gesamtanzahl der Fehler, zunächst unbedeutend zu sein. Die Häufigkeitsanalyse der einzelnen Fehlertypen zeigt jedoch ein differenzierteres Bild: Bestimmte Bereiche scheinen anfälliger für Interferenzfehler aus dem Englischen zu sein. Auf der syntaktischen Ebene ist vor allem die Verbstellung betroffen (Tabelle 4; vgl. auch 3.2.1).
Gesamtanzahl | Interferenz aus dem Eng. | ||
Anzahl | Prozentzahl | ||
Essays | 86 | 14 | 16 |
Übersetzungen | 38 | 3 | 8 |
Insgesamt | 124 | 17 | 14 |
Auf der Ebene der Morphologie ist der Anteil der Interferenzfehler aus dem Englischen bei den Fehlern der Adjektivkomparation relativ hoch (Tabelle 5).
Gesamtanzahl | Interferenz aus dem Eng. | ||
Anzahl | Prozentzahl | ||
Essays | 6 | 3 | 50 |
Übersetzungen | 4 | 1 | 25 |
Insgesamt | 10 | 4 | 40 |
Was die lexikalischen und Wortbildungsfehler betrifft, sind sowohl bei den Grundformen (Tabelle 6) als auch im Bereich der Wortbildung (Tabelle 7) Interferenzfehler aus dem Englischen recht häufig.
Gesamtanzahl | Interferenz aus dem Eng. | ||
Anzahl | Prozentzahl | ||
Essays | 17 | 4 | 24 |
Übersetzungen | 2 | 2 | 100 |
Insgesamt | 19 | 6 | 31 |
Gesamtanzahl | Engl. Interferenz | ||
Anzahl | Prozentzahl | ||
Essays | 87 | 8 | 9 |
Englische Interferenzen sind lediglich unter den Valenzfehlern unbedeutend. Dafür liefert die Psychotypologie eine mögliche Erklärung: Konzepte dieser Art sind im mentalen Lexikon eher auf Ungarisch verankert.
Durch die Analyse der Metadaten konnte ermittelt werden, dass etwa zwei Drittel der Proband:innen (30 von 46) Interferenzfehler aus dem Englischen zeigen, 10 sogar in mehreren Bereichen. Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil es sich um fortgeschrittene Deutschlernende handelt, die Deutsch auf dem Niveau B2-C1 beherrschen. Das heißt, es wäre wichtig, beim DaFnE-Unterricht auch fortgeschrittene Lernende zu berücksichtigen.
4. Zusammenfassung
Die Analyse hat gezeigt, dass Interferenz aus dem Englischen als mögliche Fehlerquelle bei ungarischen Deutschlernenden mit Englisch als weiterer Fremdsprache nicht unbedeutend ist. Ferner konnte festgestellt werden, dass alle sprachlichen Ebenen betroffen sind; es konnte sowohl lexikalischer als auch grammatischer und konzeptueller Transfer nachgewiesen werden.
Die Anfangshypothese konnte bestätigt werden: Es ist durchaus möglich, fehlerannotierte Lernerkorpora in der TSF zu verwenden. Es konnte nachgewiesen werden, dass das Englische auch bei fortgeschrittenen Lernenden einen Einfluss auf die Verwendung des Deutschen hat. Außerdem konnten wichtige Transferquellen, auch für grammatischen Transfer, identifiziert werden. Für Verbstellungsfehler wie (1) und (2), wenn das finite Verb an der 3., und nicht an der 2. Stelle stand, war fast ausschließlich der Einfluss des Englischen verantwortlich, da Fehler dieser Art vor allem von Lernenden mit Englisch als weiterer Fremdsprache begangen wurden. Weitere Bereiche, die für (negativen) grammatischen Transfer anfällig sind, sind die Adjektivkomparation und die Wortbildung.
Wie erwartet, haben sich auch Grenzen für die Verwendung von Korpora dieser Art aufgezeigt: Um in der TSF verwendet werden zu können, müssten neue Metadaten hinzugefügt, bzw. vorhandene Metadaten präzisiert werden. Notwendig wäre eine genaue Sprachbiographie der Proband:innen, mit Angaben über die Dauer des Unterrichts in den einzelnen Fremdsprachen und des Niveaus der Sprachkenntnisse in allen Fremdsprachen. Eine weitere, für die TSF wichtige Information wäre, welche Fremdsprache(n) die Proband:innen im Alltag benutzen und für welche Zwecke.
Notes
- Für wertvolle Hinweise und Kommentare danke ich Tímea Berényi-Nagy, den Teilnehmer:innen der Tagung Fehlerannotierte Lernerkorpora des Deutschen: Methodologie und Empirie, sowie den beiden Gutachter:innen von KorDaF. [^]
- Z.B. in Ungarn wird in den Schulen die erste Fremdsprache in der Regel in der 4., die zweite in der 9. Klasse eingeführt. [^]
- Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/halten (18.11.2024) [^]
- Vgl. dictionary.cambridge.org/dictionary/english/hold (18.11.2024) [^]
- Vgl. www.duden.de/rechtschriebung/attention (18.11.2024) [^]
Literatur und Ressourcen
Korpora und Wörterbücher
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Cambridge Dictionary: https://dictionary.cambridge.org (18.11.2024).
Duden: https://www.duden.de (18.11.2024).
Langenscheidt: https://de.langenscheidt.com/deutsch-englisch (18.11.2024).
Forschungsliteratur
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Katsikas, Sergios (1995): Fehler im Fremdsprachenerwerb: Vorschläge für eine Typologie von Fehlerursachen. In: Moderne Sprachen 39: 1-2, 19–34.
Kleppin, Karin (2001): Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie. In: Helbig, Gerhard / Götze, Lutz / Henrici, Gert / Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch (=HSK 19.2). Berlin / New York: de Gruyter, 986–994.
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Molnár, Krisztina / Berényi-Nagy, Tímea (2022): Zum Ertrag der sprachtypologisch-kontrastiven Sprachbeschreibung für den DaF-/DaFnE-Unterricht am Beispiel der Infinitivkonstruktionen. In: Pieklarz-Thien, Magdalena / Chudak, Sebastian (Hrsg.): Wissenschaften und ihr Dialog. Exkurse zur Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Göttingen: V&R Unipress, 273–291.
Rothman, Jason / González Alonso, Jorge / Puig-Mayenco, Eloi (2019): Third language acquisition and linguistic transfer. Cambridge: Cambridge University Press.
Biographische Notiz
Krisztina Molnár ist Dozentin am Lehrstuhl für germanistische Linguistik an der Universität Pécs, Ungarn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sprachtypologie und kontrastive Linguistik, sowie korpusbasierte sprachtypologisch-kontrastive Untersuchungen.
Kontaktanschrift:
Krisztina Molnár
Universität Pécs
Institut für Germanistik
Ifjúság útja 6
H-7624 Pécs