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KORPUSDATEN UND PHRASEODIDAKTIK: PROBLEME UND PERSPEKTIVEN

Authors: Fabio Mollica orcid logo (Università degli Studi di Milano) , Kathrin Steyer (Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) Mannheim)

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    KORPUSDATEN UND PHRASEODIDAKTIK: PROBLEME UND PERSPEKTIVEN

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Abstract

Wortverbindungen sind der Schlüssel zu einer kulturell angemessenen Kommunikation. Mithilfe von Korpusdaten kann phraseologisches Wissen nahe am tatsächlichen Sprachgebrauch vermittelt werden. Der vorliegende Artikel stellt die Beiträge der Themenausgabe „Korpora, Phraseologie und DaF“ vor, die den Einsatz von Korpora, ihre hohe Wirksamkeit, aber auch die damit verbundenen Probleme für die Lehr- und Lernpraxis aus unterschiedlichen phraseodidaktischen Perspektiven beleuchten. Folgende Schwerpunkte der Beiträge werden in der Einleitung zusammengefasst: Frequenz als Mittel zur Erfassung besonders typischer und daher bevorzugt zu vermittelnder Phraseme; die Authentizität und Variabilität von Sprachdaten für das Verständnis relevanter Gebrauchsmerkmale; der Nutzen korpusbasierter Analysen für die Entwicklung interkultureller Kompetenz sowie die Möglichkeiten, korpusbasierte Beispiele und Übungen in den Unterricht zu integrieren. 

Multi-word units are the key to culturally appropriate communication. With the help of corpus data, phraseological knowledge can be conveyed close to current language use. This article presents the contributions to the thematic issue “Corpora, Phraseology and German as a Foreign Language”. From different phraseo-didactic perspectives, these articles shed light on the use of corpora, their great effectiveness, but also on the associated problems for teaching and learning practice. The following main points are summarised in the introduction: frequency as a way of identifying phrasemes that are particularly typical and therefore preferred for teaching, the authenticity and variability of language data for understanding relevant usage characteristics; the benefits of corpus-based analyses to develop intercultural competence, and the possibilities of integrating corpus-based examples and exercises into the classroom.

Keywords: Phraseologie, Phraseodidaktik, Korpora, Frequenz, phraseology, phraseo-didactics, corpora, frequency

How to Cite:

Mollica, F. & Steyer, K., (2024) “KORPUSDATEN UND PHRASEODIDAKTIK: PROBLEME UND PERSPEKTIVEN”, Korpora Deutsch als Fremdsprache 4(1), 1–7. doi: https://doi.org/10.48694/kordaf.4000

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05 Aug 2024
Peer Reviewed

Die Phraseologie hat eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition und umfasst heute nahezu alle Bereiche der Sprachwissenschaft. Mit der Korpuslinguistik und der Möglichkeit, sprachliche Massendaten zu untersuchen, hat auch in der phraseologischen Forschung eine empirische Revolution stattgefunden, wie Steyer (2015: 280) ausführt1:

The phraseological scope widened. It became more and more evident how central multi-word units are for understanding language use itself. The analysis of authentic language data in huge dimensions, for example by consulting very large corpora, gives a striking demonstration that language use is fundamentally made up by multi-word units that appear in the form of fixed lexical chunks, set phrases, long-distance word groups, and so on.

Der zweite Paradigmenwechsel steht im Zusammenhang mit der Durchsetzung von Musterperspektiven, die phraseologischen Gebrauch in einem neuen Licht erscheinen lassen, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit der Konstruktionsgrammatik2.

Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs und die Hinwendung zu Mustern und Konstruktionen bei gleichzeitiger Abkehr von der alleinigen Fokussierung auf semantische Idiomatizität als phraseologischem Leitprinzip haben der Phraseologie zu einer wachsenden Wahrnehmung in vielen anderen Gebieten wie Spracherwerb, NLP (v.a. maschinelle Übersetzung) oder kognitive Linguistik (s. Granger / Meunier 2008; Gries 2008: 3-4) verholfen – und natürlich ebenso in der Fremdsprachenerwerbsforschung und Fremdsprachendidaktik.

In Bezug auf Korpora befindet sich auch der DaF-Bereich im Wandel (s. Flinz et al. 2021: 1), wovon die Beiträge der gesamten KorDaF-Zeitschriftenreihe beredtes Zeugnis ablegen3. Aus korpusbasierter Mehrwortperspektive ergibt sich allerdings ein differenzierteres Bild: Obwohl die Relevanz dieser verfestigten Einheiten des Sprachgebrauchs für den Erwerb und die Vermittlung des Deutschen seit langem unbestritten ist, standen Phraseme z.B. in der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache jahrelang eher nicht im Mittelpunkt4. Der Themenschwerpunkt ‚Usuelle Wortverbindungen‘ (s. Breindl / Dalmas / Dobrovol’skij 2023) stellt daher schon eine Art Zäsur da, die sicherlich auch Auswirkungen auf die DaF-Didaktik im Bereich der Phraseologie haben wird.

Die Vermittlung phraseologischer Kompetenzen wird seit vielen Jahren im Bereich der Phraseodidaktik diskutiert (z.B. Hallsteinsdóttir 2011: 4; Benigni et al. 2015), in letzter Zeit immer mehr vor dem Hintergrund der Korpuslinguistik. Am weitesten fortgeschritten sind aus phraseodidaktischer Sicht die korpusbasierten Forschungen zu und Formen der didaktischen Aufbereitung von Kollokationen. Es herrscht ein weitestgehender Konsens dahingehend, dass die Kenntnis solcher habitualisierter Wortkombinationen fundamental für den Erwerb und Einsatz einer Fremdsprache sind und das vor allem in der Sprachproduktion.

Kontroverser wird in der Fachwelt hingegen die Rolle von Idiomen diskutiert, also die Frage, ab welchem Sprachniveau diese beherrscht werden können oder sollten. Die Auffassung, dass dies erst auf einem höheren Kompetenzniveau sinnvoll erscheint, ist in jüngster Zeit zumindest teilweise relativiert worden. Die Korpuslinguistik hat sehr deutlich herausgearbeitet, dass auch diese hochgradig und oft stark verfestigten (zumeist einem gewissen Grad an Opakheit unterliegenden) Einheiten in einem Netzwerk nicht-phraseologischer sprachlicher Ausdrücke und Routinen verankert sind, also keinesfalls nur als „stilistisches Beiwerk“ dienen, sondern ebenso relevante Bausteine der Kommunikation darstellen.

Die Beiträge dieser Themenausgabe gehen mit unterschiedlichen Schwerpunkten der Frage nach, welchen Stellenwert Phraseme in der DaF-Didaktik insgesamt haben, welche Rolle Korpora bei der Vermittlung von Phrasemen spielen und welche methodischen Ansätze sich hierbei als besonders effektiv erweisen können. Dabei lassen sich u.a. die folgenden fünf Punkte zusammenfassen:

  1. Häufigkeit: Korpora bieten die Möglichkeit, große Mengen von Sprachdaten systematisch zu analysieren. Diese Erkenntnisse sind wertvoll, um zu verstehen, welche Phraseme besonders häufig und gebräuchlich sind und daher im Sprachunterricht prioritär behandelt werden sollten. Dies betrifft insbesondere die Herausstellung von für DaF-Lernende relevanten Kollokationen und syntaktischen Mustern, die mit bestimmten Phrasemen verbunden sind.

    Wichtig ist aber anzumerken, dass es keine absolute Häufigkeit eines Phrasems in der Sprache geben kann. Dies ist immer abhängig vom zugrunde liegenden Korpus und der Suchstrategie. Was man aber sagen kann (wenn man sehr große Referenzkorpora als empirische Basis benutzt), ist, dass die Einheiten mit höheren Frequenzen von einer gesicherteren Typikalität und daher bei der Vermittlung zu bevorzugen sind. Frequenzen können ebenso hinsichtlich der Verwendung von Phrasemen in unterschiedlichen Textsorten und Kommunikationssituationen sowie aus interlingualer Sicht von einiger Relevanz sein, um mögliche Äquivalenzen zwischen den Sprachen herauszuarbeiten.

  2. Authentizität und Gebrauch: Korpora bestehen aus großen Sammlungen authentischer Sprachdaten aus verschiedenen Kontexten und Textsorten (z.B. gesprochene Sprache, geschriebene Texte, unterschiedliche Register, usw.). Diese Vielfalt ermöglicht es Lernenden und Lehrenden, sich ein aussagekräftiges Bild davon zu machen, wie phraseologische Einheiten in verschiedenen Situationen verwendet werden. Die Authentizität der Sprachdaten bedeutet, dass die Texte und Sprachbeispiele aus realen, natürlichen Kommunikationssituationen stammen und somit die tatsächliche Sprachverwendung widerspiegeln. Dies steht im Gegensatz zu künstlich erstellten Beispielen, wie sie häufig in Lehrbüchern zu finden sind. Darüber hinaus bieten Korpusdaten neue Zugänge zu pragmatischen Aspekten phraseologischer Einheiten, beispielsweise ihre Gebundenheit an spezifische kommunikative Situationen und Funktionen, vor allem im Kontrast zur Muttersprache der Lernenden. Diese pragmatischen Einblicke liefern wertvolle Informationen zur angemessenen Verwendung in der alltäglichen Kommunikation.

  3. Vielfalt der Sprachdaten: Authentische Daten zeigen die Fixiertheit, Variabilität und Dynamik phraseologischen Gebrauchs, wobei die supraregionale Varietät für den DaF-Unterricht naturgemäß besonders von Belang ist. Das Spektrum der Sprachdaten umfasst diverse Textsorten und Kommunikationsformen, wie formelle und informelle Gespräche, Zeitungsartikel, literarische Werke, Blogs und soziale Medien. Diese Bandbreite ermöglicht es, die kommunikative Angemessenheit unterschiedlicher Register, Fachsprachen und Stile zu verstehen.

  4. Lehrmaterialien: Korpora bieten ebenso eine Grundlage für die Entwicklung von Lehrmaterialien und Aufgaben, die auf authentischem und frequentem Sprachgebrauch basieren. Die Integration von korpusbasierten Beispielen und Übungen in den Unterricht macht das Lernen von Phrasemen nicht nur effektiver, sondern ungleich interessanter. Authentische Sprachdaten tragen dazu bei, dass die vermittelten phraseologischen Einheiten im gegenwärtigen Sprachgebrauch tatsächlich verankert sind. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Lernenden diese Phrasemen korrekt und sicher in ihrer eigenen Kommunikation anwenden können. Dieser Punkt stellt ein echtes Desideratum dar, wenn man bedenkt, dass korpusbasierte Lehrmaterialien sogar für das Englische in nicht allzu großer Zahl existieren (s. Gilquin 2022: 112). Auch die Integration der historischen Perspektive lässt sich gewinnbringend nutzen, da so aufschlussreiche Einblicke in die Praxis der Vermittlung von Phrasemen ermöglicht werden, die dann Rückschlüsse auf sprachliche Mechanismen in der Gegenwart zulassen.

  5. Förderung interkultureller Kompetenz: Im Fremdsprachenunterricht können Korpora genutzt werden, um Lernende mit der idiomatischen und kulturellen Spezifität der Zielsprache vertraut zu machen. Die Fähigkeit, Phraseme richtig zu verstehen und anzuwenden, trägt entscheidend zur interkulturellen Kommunikation bei, da diese oft tief im Gedächtnis einer Sprachgemeinschaft verwurzelt sind und kulturelle Werte, Traditionen und Denkmuster widerspiegeln. Darüber hinaus macht der richtige Einsatz von Phrasemen die Kommunikation nuancierter, natürlicher und reicher, was nicht unwesentlich zum Abbau von Sprachbarrieren beitragen kann. Der falsche oder besser gesagt inadäquate Gebrauch, insbesondere von Idiomen, wiederum kann zu Missverständnissen führen.

Die ersten drei Beiträge dieser Ausgabe sind im Rahmen des vom Erasmus+ Förderprogramm der EU kofinanzierten Projekts Plurilingual Phraseology: Learning multiword units through English (PhraseoLab) entstanden. Sie diskutieren basierend auf korpuslinguistischen Analysen theoretische Grundlagen für das Vermitteln und Erlernen von Phrasemen. Hauptziel des Projekts ist es, den Erwerb der deutschen Phraseologie (Kollokationen, Idiome und Routineformeln) durch das Englische als ‚Brückensprache‘ zu fördern.

In ihrem Beitrag „Korpuslinguistische Ansätze der Phraseologie – und was nun? Phraseodidaktik und die Potenziale neuerer Zugänge der Sprachdidaktik“ schlagen Erla Hallsteinsdóttir und Marios Chrissou ein integratives Modell für das Lehren und Lernen von Phrasemen vor. Ausgehend vom phraseodidaktischen Dreischritt von Peter Kühn diskutieren sie verschiedene theoretische Ansätze wie z.B. Feilkes erweiterten wortschatzdidaktischen Dreischritt, in dem phraseologische Einheiten als Bestandteil der gesamten lexikalischen Kompetenz betrachtet werden. Eine zentrale Funktion beim Erlernen von Phrasemen schreiben die Autoren den Phasen Rezeption, Reflexion und Produktion zu, wobei diese nicht als lineare Abfolge zu verstehen sind. Sie plädieren aber darüber hinaus für die Einbeziehung einer Reihe von zusätzlichen Ansätzen, die für die Vermittlung von Phrasemen Erfolg ebenso versprechend sind: Neben der Fokussierung auf die Form und Funktion spielen z.B. task-based learning, der mehrsprachige Kontrast (insbesondere der Bezug auf das Englische), die interkulturellen und damit verbundenen affektiven Aspekte eine wesentliche Rolle. Multimediales und korpusorientiertes Lernen seien ebenso fördernde Faktoren, die den Erwerb begünstigen können, denn sie ermöglichen, phraseologische Einheiten in ihren Kontexten zu lernen und Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu erfassen.

Der Beitrag „Teaching German Phrasemes through English: The Role of Equivalence“ von Florentina Micaela Mena-Martínez, Moisés Almela-Sánchez und Carola Strohschen befasst sich mit den linguistischen und didaktischen Grundlagen des Projekts PhraseoLab, dessen plurilinguale Ansatz die Ähnlichkeiten zwischen englischen und deutschen Phrasemen nutzt, um eine komplexe sprachliche und kommunikative Kompetenz zu fördern. Die Datenbank und die Lernaktivitäten konzentrieren sich auf Phraseme mit entweder vollständiger oder teilweiser Äquivalenz im Englischen und im Deutschen. Ein zentrales Thema des Artikels ist die phraseologische Äquivalenz mit unterschiedlichen Parametern und deren Bedeutung für die Auswahl und Bewertung von Lehrmaterialien, und zwar am Beispiel des Kontrast Frieden schließen vs. make peace (mit Schwerpunkt auf semantischen und pragmatischen Merkmalen). Die Studie basiert auf einem korpusbasierten Ansatz, der es ermöglicht, die Häufigkeit von Kollokationen zu ermitteln und Informationen zur Identifizierung von Äquivalenzstufen zu liefern. Diese Methodik kombiniert qualitative und quantitative Kriterien, um die relevantesten und nützlichsten phraseologischen Einheiten für Lernende auswählen zu können. Der Artikel betont auf der einen Seite die Bedeutung der Frequenz in der Phraseodidaktik, problematisiert aber auf der anderen Seite die Relativität generalisierender Schlussfolgerungen bedingt durch die jeweilige Korpuszusammensetzung.

Anna Sulikowska und Marios Chrissou analysieren in ihrem Beitrag „Idiome im DaF-Unterricht. Ergebnisse einer Frequenzuntersuchung für das Projekt PhraseoLab“ die Rolle von Idiomen im DaF-Unterricht. Idiome bilden neben Kollokationen und Routineformeln die dritte Gruppe fester Mehrworteinheiten, die im Projekt didaktisch aufbereitet werden. Die Autoren diskutieren die Herausforderungen und unterschiedlichen Auffassungen zur Integration dieser sprachlichen Einheiten in den DaF-Unterricht, einschließlich der Frage, welche Idiome gelehrt werden sollten und ab welchem Sprachniveau. Dies ist bisher nicht zufriedenstellend geklärt, da empirische Untersuchungen zur Nutzung von Idiomen durch Nicht-Muttersprachler bis dato fast gänzlich fehlen. Die Autoren plädieren für eine differenzierte Herangehensweise beim Aufbau und bei der Vermittlung eines idiomatischen Grundwortschatz. Primär relevant seien linguistische Kriterien wie die interlinguale Äquivalenz zwischen der Mutter- bzw. gut beherrschten Fremdsprache und der Zielsprache. Der Ausgangspunkt sollte jedoch die Vorkommenshäufigkeit im authentischen Sprachgebrauch sein, die anhand von Frequenzuntersuchungen in Korpora der mündlichen und der schriftlichen Sprache ermittelt wird. Mit diesem methodischen Zugang kann die lange Zeit vorherrschende intuitive, kompetenzbasierte Selektion überwunden werden. Der Beitrag stellt Ergebnisse einer solchen Frequenzerhebung von Idiomen in sehr großen Korpora vor. Die entsprechende Liste ist im Anhang dokumentiert und kann bereits als eine nützliche DaF-Ressource angewendet werden.

Die letzten zwei Beiträge bieten unterschiedliche Perspektiven: Der eine stellt eine korpusbasierte Untersuchung von Phrasemen (im weiteren Sinne) bei frankophonen Lernenden vor, der andere analysiert historische Fremdsprachenlehrwerke.

Anja Smiths Artikel „Expressions of Opinion Produced by French Learners of German as a Foreign Language. An Exploratory Corpus Analysis (L1 - L2)“ präsentiert eine korpusbasierte Analyse von Meinungsausdrücken im Deutschen (wie ich denke, dass oder ich glaube, dass), die auf mehr oder weniger festen Mehrwortverbindungen beruhen. Im Mittelpunkt stehen formale und funktionale Besonderheiten ausgewählter Meinungsausdrücke in der schriftlichen Textproduktion französischer Deutschlernender im Vergleich zu denen deutscher Muttersprachler. Es handelt sich dabei um eine konstruktionsgrammatische, frame-semantische, diskurs- und textlinguistische Analyse. Mit Hilfe von Sketch Engine werden sowohl ein eigens erstelltes Lernerkorpus französischer Studierender als auch ein muttersprachliches Vergleichskorpus quantitativ und qualitativ ausgewertet. Die exemplarisch durchgeführte Analyse verdeutlicht, dass ähnliche formelhafte Phrasen in verschiedenen Sprachen Divergenzen auf ganz unterschiedlichen sprachlichen Ebenen aufweisen können, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer lexikogrammatischen Strukturen als auch ihrer pragmatischen Eigenschaften. Die Studie illustriert, dass Französischlernende Schwierigkeiten haben, deutsche Meinungsausdrücken korrekt zu verwenden, was auf innersprachliche und kulturelle Unterschiede zurückzuführen ist. Natürlich gilt dasselbe im Umkehrschluss. Vergleichende Korpusdaten und typische Kontexteinbettungen können die Natur solcher semantischer und pragmatischer Interferenzfehler auf neue Weise erhellen und zu einem adäquateren Verständnis der subtilen Unterschiede des Gebrauch bestimmter Ausdruckstypen in den Kontrastsprachen beitragen.

Laura Panne und Julia Hübner untersuchen in ihrem Beitrag „Phraseologie im historischen Fremdspracherwerb. Vermittlung und Übersetzung von Idiomen in der Frühen Neuzeit“ die historische Vermittlung von Phrasemen im Fremdsprachenunterricht. Sie betonen, dass diese Forschung im Kontext von Deutsch als Fremdsprache bisher wenig Beachtung gefunden hat. Das Korpus besteht aus Lehrwerken des 17. und des 18. Jahrhunderts, die überwiegend aus der Berliner Datenbank frühneuzeitlicher Fremdsprachenlehrwerke stammen. Diese in ganz Europa verbreiteten mehrsprachigen Lehrwerke wurden hauptsächlich für den praktischen Gebrauch für Kaufleute und Reisende entwickelt und enthalten mehrere Komponenten. Die Vorworte bieten Einblicke in das metasprachliche Bewusstsein der jeweiligen Verfasser, während die Grammatiken grundlegende Informationen zur Sprachstruktur liefern. Die Musterdialoge und Wortlisten ermöglichen einen Einblick in die alltägliche Verwendung von Idiomen und deren Vielfalt. Panne und Hübner interessieren sich sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte der Phraseme in diesen Lehrwerken (speziell der Somatismen), wobei sie auf die Idiomatizität und die Herausforderungen der Übersetzung eingehen. Eine solche historische Perspektive eröffnet neue Einblicke in die Praxis der Vermittlung von Phrasemen in der frühen Neuzeit und ganz generell in Sprachwandelprozesse.

Die Beiträge verdeutlichen, dass Korpora zweifellos einen bedeutenden Mehrwert für die Vermittlung von Phrasemen bieten. Klar ist jedoch – wie in einigen Artikeln dieser Themenausgabe betont wird –, dass die korpuslinguistische Herangehensweise nur eine von mehreren Ansätzen und Methoden in der Phraseodidaktik sein kann. Gilquin (2022: 115) verweist auf einige Fallstricke speziell aus didaktischer Sicht:

  1. Die von Korpora bereitgestellten Informationen können oft derart detailliert oder komplex sein, dass sie insbesondere für Lernende mit geringen Fremdsprachenkenntnissen eine Barriere darstellen.

  2. Der Einsatz von Korpora im Fremdsprachenunterricht erfordert viel Zeit. Häufig ist es daher einfacher und schneller, Beispiele aus vorhandenen Lehrmaterialien zu verwenden oder vom Lehrenden ad hoc zu erstellen.

  3. Trotz der positiven Ergebnisse von Unterrichtsexperimenten, die Korpusdaten nutzen, können diese nicht der Zugang sein, der für alle Unterrichtsarten und/oder Lernenden geeignet ist. Daher ist es ratsam, den auf Korpora basierenden Unterricht mit weiteren Ressourcen und Methoden zu ergänzen.

Diese Einschränkungen sollten aber u.E. nicht zu einem empirischen ‚Rollback‘ führen, sondern im Gegenteil als Herausforderung für die Zukunft angenommen werden. Das Stichwort ist hier corpus literacy zunächst der Lehrenden (s. z.B. Mukherjee 2002: 179), mit der die Fähigkeit gemeint wird, Korpusdaten effektiv zu nutzen und zu interpretieren. Dies bedeutet nicht nur technisches Wissen, sondern auch ein tiefes Verständnis für die linguistischen und methodologischen Grundlagen, in unserem Kontext bspw. von komplexen Suchprozeduren oder Kollokations- und Clusteringverfahren:

Die Entwicklung von Methodenkompetenz ist daher das Gebot der Stunde. Damit ist nicht nur die reine Suche nach treffenden Beispielen in Korpora gemeint, sondern das intelligente Anwenden solcher Ressourcen wie Frequenzlisten, Clusteringverfahren, systematisierte KWIC-Konkordanzen und Kookkurrenzprofile als Zugang zu Bedeutung und Gebrauch von Wortschatzeinheiten, zu typisierten Kotextmustern und – in einem generellen – Sinne zu sprachlichem Wissen. (Steyer 2023: 210)

Die Methodenkompetenz der Lehrenden hat dann zwangsläufig Auswirkungen auf das aktive Lernen selbst, auf die Fähigkeit, sich über eine große Menge authentischer Ko- und Kontextmuster sprachliche Kompetenz anzueignen, die situationsgerecht und kulturell angemessen scheint. Dies stellt im Grunde eine Simulation des Lernens oder des Vertiefens einer Fremdsprache in zielsprachiger Umgebung dar. Hier erwirbt man solche Kontextsensibilität ‚by doing‘. Man hört bestimmte Mehrwortausdrücke und Chunks immer wieder und kann sie irgendwann aufgrund der wiederkehrenden Situationen memorieren (vgl. Steyer 2023: 210). Gefragt ist vor allem die anwendungsbezogen Korpuslinguistik, die die Brücke zu der Phraseodidaktik schlagen und dieser das entsprechende Instrumentarium in die Hand geben sollte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Korpora trotz aller Schwierigkeiten einen bedeutenden Mehrwert für die Phraseodidaktik bieten, was durch die in dieser Themenausgabe präsentierten Forschungsergebnisse in unterschiedlichen Facetten belegt wird. Wir hoffen, dass diese Beiträge neue Impulse und Perspektiven für die phraseologische Praxis und Forschung in der DaF-Didaktik eröffnen und zur Weiterentwicklung der Verwendung von Korpora im DaF-Unterricht beitragen.

Notes

  1. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die umfassenden korpuslinguistischen Forschungen im angelsächsischen Raum (stellvertretend Sinclair 1991, 2004 sowie Biber 2009 u.v.a.). [^]
  2. Die Einführung zu Mustern in Sprache und Kommunikation von Stein und Stumpf kann deshalb zum einen als folgerichtige Fortführung der 5. Auflage der Einführung in die Phraseologie (vgl. Burger 2015), zum anderen als Beitrag zur Einbettung der Phraseologie in einen weiteren linguistischen Forschungskontext angesehen werden (s. Stein / Stumpf 2019). [^]
  3. Wir verzichten hier explizit auf eine Diskussion der Rolle der Korpuslinguistik für die Fremdsprachendidaktik im Allgemeinen und DaF im Besonderen, da dies Gegenstand nahezu aller bisherigen Ausgaben dieser Zeitschrift war und ist. [^]
  4. Wir verwenden in diesem Artikel den Terminus Phrasem als Oberbegriff (einschließlich Kollokationen und Idiome). [^]

Literatur und Ressourcen

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Biber, Douglas (2009): A corpus-driven approach to formulaic language in English. In: International Journal of Corpus Linguistics 14: 3, 275–311.

Breindl, Eva / Dalmas, Martine / Dobrovol’skij, Dmitrij (2023): Usuelle Wortverbindungen: Einleitung in einen neuen Themenschwerpunkt. In: Deutsch als Fremdsprache 4, 195–200.

Burger (2015): Phraseologie: Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 5., neu bearbeitete Auflage. Berlin: Erich Schmidt.

Flinz, Carolina / Hufeisen, Britta / Luppi, Rita / Mell, Ruth (2021): Zeit für eine neue Zeitschrift? – Die elektronische Zeitschrift KorDaf – Korpora für Deutsch als Fremdsprache stellt sich vor. In: Korpora Deutsch als Fremdsprache 1: 1, 1–5 https://kordaf.tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/article/id/36/ (23.06.2024).

Granger, Sylviane / Meunier, Fanny (Hrsg.) (2008): Phraseology. An interdisciplinary perspective. Amsterdam: John Benjamins.

Gilquin, Gaëtanelle (2022): Cognitive corpus linguistics and pedagogy. From rationale to applications. In: Pedagogical Linguistics 3: 2, 109–142.

Gries, Stefan Th. (2008): Phraseology and linguistic theory: A brief survey. In: Granger / Meunier (2008), 3–25.

Hallsteinsdóttir, Erla (2011): Aktuelle Forschungsfragen der deutschsprachigen Phraseodidaktik. In: Linguistik Online 47: 3, 3–31. https://bop.unibe.ch/linguistik-online/article/view/358 (23.06.2024).

Mukherjee, Joybrato (2002): Korpuslinguistik und Englischunterricht. Eine Einführung. Berlin: Peter Lang.

Sinclair, John (1991): Corpus, Concordance, Collocation. Oxford: Oxford University Press.

Sinclair, John (Hrsg.) (2004): How to Use Corpora in Language Teaching. Amsterdam: John Benjamins.

Stein, Stephan / Stumpf, Sören (2019): Muster in Sprache und Kommunikation. Eine Einführung in Konzepte sprachlicher Vorgeformtheit. Unter Mitarbeit von Andrea Bachmann-Stein, Natalia Filatkina, Carina Hoff und Martin Wengeler. Berlin: Erich Schmidt.

Steyer, Kathrin (2015): Patterns. Phraseology in a State of Flux. In: International Journal of Lexicography 28: 3, 279–298.

Steyer, Kathrin (2023): Dynamik, Adaptation, Unschärfe. Zur Vielschichtigkeit usueller Wortverbindungen. In: Deutsch als Fremdsprache 4, 201–212.

Biographische Notiz

Fabio Mollica ist Professor für deutsche Sprache an der Universität Mailand. Seine Hauptschwerpunkte liegen im Bereich der Phraseologie, Syntax (Konstruktionsgrammatik und Valenztheorie), kognitiven Linguistik, kontrastiven Linguistik, Wörterbuchbenutzungsforschung und DaF. Er ist Mitherausgeber des Yearbook of Phraseology. Er ist Vorstandsmitglied von EUROPHRAS und Mitglied des internationalen wissenschaftlichen Rats des IDS.

Kontaktanschrift:

Prof. Dr. Fabio Mollica

Università degli Studi di Milano

Dipartimento di Lingue,

Letterature, Culture e Mediazioni

Piazza I. Montanelli, 1

0099 Sesto S. Giovanni

fabio.mollica@unimi.it

Kathrin Steyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDS. Von 2014-2021 war sie Präsidentin von EUROPHRAS. Sie ist Mitherausgeberin der Reihe Formelhafte Sprache – Formulaic Language und des Yearbook of Phraseology sowie im Editorial Boards, u.a. Proverbium; Phraseology and Multiword Expressions. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Phraseologie und Konstruktionsgrammatik; Korpuslinguistik; Parömiologie; kontrastive Linguistik; Onlinelexikografie; DaF.

Kontaktanschrift:

Dr. Kathrin Steyer

Leibniz-Institut für Deutsche Sprache

R 5, 6-13

D-68161 Mannheim

steyer@ids-mannheim.de